Die Veränderung haben wir selbst in der Hand - dabei ist entscheidend, dass die Veränderung nur durch das neue dauerhafte Tun geschehen kann

Freie Suchtselbsthilfe Nördlingen - Mehr als 200 Besucher hörten den Vortrag von Professor Dr. Harald Rau über die Frage "Was spielt sich bei der Sucht im Gehirn ab?" Aktuelle Erkenntnisse aus der Hirnforschung informieren und machen Mut

(12/2007) Mehr als 200 aufmerksame Zuhörer waren der Einladung zum Thema „Was spielt sich im Kopf ab? – Die Sucht aus der Perspektive der Hirnforschung“ in den damit vollen katholischen Pfarrsaal St. Salvator gefolgt. Veranstalter war die Freie Suchtselbsthilfe Nördlingen. Mit Prof. Dr. Harald Rau konnte ein ausgewiesener Experte für das spannende Thema gewonnen werden. Der Referent ist Diplompsychologe und Psychotherapeut.

Wann entsteht eine handfeste Sucht?

Rau ging es nicht primär um das viel disku-tierte „Komasaufen“ unter Jugendlichen oder die neueste Unsitte der „Flatrate-Partys“, bei denen man einmal Eintritt zahlt und dann trinkt, so viel man kann. Er erklärte, was sich im Gehirn abspielt, wenn aus dem gelegentlichen Glas Wein oder dem gemütlichen Rausch unter Freunden eine handfeste Sucht wird. Und seine Ergebnisse sind ziemlich überraschend. 
Er ging der Frage nach: Wie wirken sich immer wiederholte Erfahrungen, Gewohnheiten oder Automatismen auf das Gehirn aus? Dabei betrachtete er eine Suchterkran-kung als so etwas wie einen Automatismus. Verhaltensweisen werden automatisch entwickelt, so der Konsum von Alkohol oder Drogen in bestimmten Situationen. Da laufe etwas ab, ohne dass man es wolle und dies auch nicht groß steuern müsse. 
Anschaulich machte der Referent am Beispiel eines Geigenspielers deutlich, wie bei diesem durch die vielen Fingerübungen entsprechend größere Fingerrepräsentationen im Gehirn mehr Raum bekommen (mehr Nervenzellen und mehr Nervenverknüpfungen). So passe das Gehirn sich daran an, was es häufig tun müsse, speichere unsere Erfahrungen, Wissen und Gewohnheiten ein. So könnten wir etwa gehen oder Auto fahren, weil wir es automatisiert haben, und vieles nebenher auch noch tun – dies sei die wesentliche Funktionsweise des Gehirns. 

Neurogenese – Zerstörte Gehirnzellen können neu gebildet werden

Nach neuesten Erkenntnissen kann sich das Gehirn selbst von jahrelangem, exzessiven Alkoholmissbrauch erholen. „Neurogenese“ nennt Professor Rau das, und meint die erst vor wenigen Jahren entdeckte Tatsache, dass zerstörte Hirnzellen neu gebildet werden, wenn der Alkoholkranke nur lange genug trocken bleibt.
Erlebt jemand den Konsum von Alkohol in einer ganz bestimmten Situation als entspannend und wohltuend, registriert das Gehirn diese Situation und kann sie fortan jederzeit als Suchtimpuls abrufen, so der Referent weiter. Wer seinen Flachmann – mit dem Bahnhofskiosk als äußeren Reiz – jeweils dort kauft, dem wird der Kiosk das Suchtgedächtnis aktivieren. So erwarte das Gehirn beim Kiosk den Stoff und entwickle ganz besonders stark Suchtdruck bis zur Entzugssymptomatik, die dann dazu veran-lasse, zu deren Reduzierung zu konsumieren. Das Suchtgedächtnis zu löschen, so Professor Rau, gehe nicht, weil dieses sich fest eingegraben habe und dauernd funktioniere. Deshalb muss man es mit neuem, gutem Verhalten überschreiben, das bedarf der dauerhaften Übung.

Die neuen Denkweisen sind ständig neu zu trainieren

So wie man bei chronischen Schmerzen oder Depressionen aufhören müsse, sich zu schonen, gelte es auch bei der Sucht aktiv zu werden und die eigentlich überwiegenden Dinge, die Sucht machen, zu ändern. In der Behandlung (Rehabilitation), so Prof. Rau, werde gefragt: Wofür war der Stoff da und wie kann jetzt jemand das Gleiche ohne erreichen? Darum sei das neue Verhalten genauso zu automatisieren, dass es im Alltag auch wirk-lich verfügbar sei. Die neuen Verhaltens-, Erlebens-, Fühl- und Denkweisen seien ständig neu zu trainieren.

Die Veränderung haben wir selbst in der Hand durch unser neues Tun

Daher das Plädoyer des Referenten, wie wichtig die Arbeit der Selbsthilfegruppen ist, damit das Suchtgedächtnis im Gehirn immer kleiner und die Fähigkeiten, die uns im Alltag angemessen weiter helfen, immer größer werden. Denn die Selbsthilfegruppenarbeit ist die längste, unbegrenzte Maßnahme im Suchthilfesystem. Das Gehirn bleibe zeitlebens plastisch. In dieser Aussage stecke viel Zuversicht. Rau: „Die Veränderung, die Plastizität haben wir selbst in der Hand. Dabei ist es ganz entscheidend, dass die Veränderung nur durch das neue gute Tun geschehen kann.“
In diesem Punkt fühlten sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Freien Suchtselbst-hilfe bestätigt. 

Darauf achten, womit man das Gehirn füttert

Am Schluss seines Vortrags zitierte Professor Rau einen treffenden Satz von dem bekannten Gehirnforscher Manfred Spitzer: „Wir achten gerade immer genauer darauf, was wir essen. Die Bioprodukte werden gar nicht mehr so schnell nachproduziert, wie sie verbraucht werden. Wir werden da immer sensibler und dies ist auch gut so.“ Gleichzeitig jedoch sagt er: „Wir achten aber immer weniger darauf, womit wir unser Gehirn füttern“ und nennt als Beispiel: „Medienkonsum, Computerspiele und lernen nicht, wie wir mit belastenden Gedanken und negativen Gefühlen umgehen.“
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Freien Suchtselbsthilfe fühlten sich zutiefst bestätigt in ihrem Tun, dass neue gute Lebensweisen aufbauen, Akzeptanz der Realität und eine gute Bindung zu sich selbst herstellen viel wichtiger ist für ein gesundes Leben, als nur das alleinige Wissen aufzubauen, das letztlich keine Veränderung bringt.
Im Sinne der Ausführungen und Zielsetzungen, von den Zuhörenden mit nachhaltigem Beifall bedacht, zeigte sich Professor Rau beeindruckt von den Aktivitäten der Freien Suchtselbsthilfe Nördlingen. 

Kontakt:
Natalja Lange – 09087/920581
info@freundeskreis-sucht-noerdlingen.de
www.freie-suchtselbsthilfe-nördlingen.de

Walter Munk: Dipl.-Sozialpädagoge (FH), Sozialtherapeut psychoanalytisch-orientiert (GVS), Logotherapie mit Existenzanalyse, Psychotherapie nach dem Heilpraktikergesetz

Dank an Walter Munk

Im Rahmen des Vortragsabend mit Professor Rau überraschten die Verantwortlichen des Vereins der Freien Suchtselbsthilfe Nördlingen Walter Munk für seine engagierte fachliche Unterstützung beim Aufbau der Suchtselbsthilfe seit 1984 und ehrten ihn mit einem Präsent und Blumen für die Ehefrau. 
In ein paar persönlichen Worten gab Herr Munk seiner Freude Ausdruck, über die Wirksamkeit der Freien Suchtselbsthilfe Nördlingen e.V. und bezeichnete diese als „long trail“ mit den zeitlich unbegrenzten Angeboten.
Vor 25 Jahren, so Munk, wäre es nicht möglich gewesen, zu diesem Thema eine so große Zuhörerschaft zu gewinnen. Es werde eher normal, dass man über Sucht und Behandlung spreche: „Jeder Mensch kann eine Sucht entwickeln. Wenn die Sucht immer weniger diskriminiert wird, haben es die Betroffenen und Angehörigen leichter wieder in das suchtfreie Leben zurück zu finden.“ 
Herr Munk verwies auf die öffentliche Anerkennung der Freien Suchtselbsthilfe Nördlingen. Nur durch dauerhafte, zukünftig qualitativ gute und beständige Arbeit, könne das Thema Sucht aus der gesellschaftlichen Schmuddelecke herausgeholt werden. 

Professor Dr. Harald Rau sprach über neues Wissen der Gehirnforschung.

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